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Die Weltkarte der Zöliakie

Dr. Schär Institute Zöliakie Glutenunverträglichkeiten
In diesem Artikel wird die abwechselnde Häufigkeit erörtert, mit der Zöliakie in „Zeit und Raum“ auftritt. Diese Information ist nicht nur für statistische Zwecke relevant, sondern dient vor allem dazu, Hypothesen über jene Faktoren zu formulieren, die zur Entwicklung dieser in der heutigen Gesellschaft derart verbreiteten Pathologie beitragen.
Infolge der Entwicklung von einfachen aber zuverlässigen Diagnoseverfahren, die es ermöglichten, die Häufigkeit der Krankheit in verschiedenen kulturellen und geografischen Zonen zu untersuchen, hat die Forschung über die Epidemiologie der Zöliakie einen enormen Auftrieb erfahren. Diese Untersuchungen, zu denen der Nachweis von Antikörpern gegen Gliadin, gegen Transglutaminase und gegen Endomysium sowie der HLA-Test für die genetische Veranlagung zählen, können nämlich durch die einfache Entnahme einiger Blutstropfen durchgeführt werden. Dabei ist es möglich, die Proben auch andernorts zu analysieren, wenn vor Ort die notwendige Laborausstattung nicht verfügbar ist, wie z. B. in manchen Entwicklungsländern. Die weltweit flächendeckend durchgeführte Forschung hat eine interessante Landkarte über die Häufigkeit der Zöliakie auf der Welt hervorgebracht, auf die wir im Folgenden kurz eingehen werden.

In der Vergangenheit wurde Zöliakie als eine seltene Krankheit angesehen, die fast ausschließlich auf die europäische Bevölkerung und auf die Altersgruppe der Kinder begrenzt war. Die ersten flächendeckenden Untersuchungen mittels der oben genannten Tests, die seit den 1980er-Jahren durchgeführt wurden, haben eine ganz andere Realität ans Licht gebracht: Zöliakie ist eine der absolut häufigsten Pathologien, zumindest in Bezug auf jene, die lebenslang andauern, und betrifft gleichermaßen Kinder und Erwachsene mit einer gewissen Präferenz für das weibliche Geschlecht (Verhältnis Männer/Frauen = 1:1,5-2)! In Italien und allgemein in Europa, das als Wiege der Forschung in diesem Bereich gilt, liegt die durchschnittliche Prävalenz der Zöliakie bei ca. 1 % der Bevölkerung, allerdings mit beträchtlichen Unterschieden von einem Land zum anderen: So sind z. B. in Deutschland „nur“ 0,2 % von Zöliakie betroffen, während sie in Finnland über 2 % der Bevölkerung betrifft. Da die genetischen Unterschiede zwischen diesen Völkern sehr gering sind, ist anzunehmen, dass die oben genannten Schwankungen vor allem auf noch wenig bekannte Umweltfaktoren zurückzuführen sind, darunter Kinderernährung, Darminfektionen und die Typologie der Darmflora (sog. Mikrobiom). Eine durchschnittliche Häufigkeit von 1 % wurde auch in anderen Ländern festgestellt, in denen die Bevölkerung hauptsächlich europäischen Ursprungs ist, darunter die USA, Australien und Argentinien.
Dr. Schär Institute Zöliakie Glutenunverträglichkeiten Die Weltkarte der Zöliakie
Skizze einer neuen Epidemiologie der Zöliakie, geprägt von Zuwächsen in den klassischen Gebieten und einer Ausbreitung in neuen Regionen der Welt
Die epidemiologische Forschung hat eine weitere beunruhigende Tatsache hervorgebracht: In der westlichen Welt nimmt die Zöliakie weiterhin zu. In den USA ist z. B. die Häufigkeit im Laufe der letzten 40 Jahre von zwei pro Tausend Fällen auf zehn pro Tausend Fällen (1 %) gestiegen. Diese alarmierende Tatsache weist ebenfalls darauf hin, dass Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielen, z. B. die Verbreitung von immer „giftigerem“ Getreide und die geringere Teiggärung beim Backen.

Parallel zu den epidemiologischen Forschungen hat sich das Konzept des „Eisbergs der Zöliakie“ entwickelt. Die Anzahl der Zöliakiefälle, die durch Symptome aufgedeckt wurden, liegt nämlich trotz des stetigen Anstiegs noch weit unter der vorher genannten Gesamtprävalenz. Ein Anteil von ca. 70-80 % der Fälle entgeht der Diagnose (Teil des Eisbergs, der unter Wasser liegt), vor allem durch nicht eindeutige oder gar nicht vorhandene Symptome, mit dem Risiko späterer Komplikationen aufgrund der fehlenden diätetischen Behandlung der Krankheit.

In den Entwicklungsländern ist die epidemiologische Realität noch weitaus beunruhigender als in der westlichen Welt. In erster Linie wurde das Ammenmärchen enttarnt, laut dem die Zöliakie hauptsächlich Europäer betreffen sollte: Eine ähnliche Häufigkeit der Krankheit (ca. 1 %) wurde nämlich in den Bevölkerungen Nordafrikas, des Nahen Ostens und Indiens festgestellt. Es konnte sogar ein afrikanisches Volk ermittelt werden, und zwar die aus der westlichen Sahara stammenden Saharawis, bei dem Zöliakie eine endemische Verbreitung von 6-7 % unter den Kindern aufweist. Die Gründe für eine derartige Häufigkeit sind unbekannt, aber es wird vermutet, dass diese Situation auf eine plötzliche Änderung der Essgewohnheiten der Saharawis zurückzuführen ist: Dieses Volk ernährte sich in der Vergangenheit vor allem von Kamelmilch und -fleisch. Nach der Kolonialisierung durch die Spanier, nahmen sie europäische Ernährungsgewohnheiten an, wobei der Konsum von Getreideprodukten drastisch zunahm. In den Entwicklungsländern können durch eine nicht diagnostizierte Zöliakie äußerst schwerwiegende Formen einer proteinkalorischen Mangelernährung hervorgerufen werden, die folglich das Risiko anderer Erkrankungen und der Kindersterblichkeit erhöhen. Aufgrund des mangelnden Bewusstseins über Zöliakie unter den Ärzten und der geringen Verfügbarkeit von Diagnosetests machen die diagnostizierten Fälle nur einen Bruchteil der gesamten betroffenen Bevölkerung aus. In Indien wird z. B. geschätzt, dass es neben einigen tausend diagnostizierten Fällen im ganzen Land, zwischen fünf und zehn Millionen Zöliakiebetroffene gibt (ein Eisberg der Zöliakie, der also beinahe zur Gänze unter Wasser liegt).
Dr. Schär Institute Zöliakie Glutenunverträglichkeiten Eisberg der Zöliakie
Aufgrund der vorher erläuterten Situation scheint die Frage nach der wirksamsten Strategie berechtigt, um jene Fälle „an die Oberfläche zu bringen“, die der Diagnose entgehen. Als bisher häufigste Option wurde dazu geraten, die Krankheit durch die dafür vorgesehenen Diagnosetests bei allen Personen zu ermitteln, die zu den „Risikogruppen“ gehören, darunter z. B. Verwandte von Zöliakiepatienten, Menschen mit Autoimmunerkrankungen oder mit Symptomen, die eine Zöliakie suggerieren könnten, etwa ein geringes Wachstum, anhaltende Darmstörungen, Anämie usw. Diese Strategie, die als „Case-Finding“ bekannt ist, ist aus ethischer Sicht und aufgrund der niedrigen Kosten gerechtfertigt, jedoch weist sie eine geringe Wirksamkeit auf, da hierdurch nicht mehr als 30 % der Fälle diagnostiziert werden können. Aus diesem Grund beginnt sich das Konzept des „flächendeckenden“ Screenings durchzusetzen, das auf der Durchführung eines Bluttests zur Ermittlung der Zöliakieantikörper bei allen Kindern beruht, z. B. bei Eintritt in die Pflichtschule (also im Alter von ca. sechs Jahren). Die Wirksamkeit dieser Strategie könnte dadurch gegeben sein, dass die genetische Veranlagung bei der Geburt überprüft wird (der HLA-Test kann, wie andere Neugeborenenscreenings, mittels eines Bluttropfens durchgeführt werden), um die Zahl der Antikörper-Tests auf jene Kinder zu begrenzen, deren genetischer Test ein positives Ergebnis aufwies.

Abschließend kann also bestätigt werden, dass die Weltkarte der Zöliakie weitaus dichter „besiedelt“ ist, als in der Vergangenheit angenommen. Dies bedarf großer Aufmerksamkeit seitens des Gesundheitswesens sowohl in der westlichen Welt als auch in den Entwicklungsländern. Die epidemiologische Erforschung der Zöliakie trägt dazu bei, die möglichen Umweltfaktoren zu identifizieren, die für die Häufigkeitsschwankungen verantwortlich sind. In der Praxis ist ein gesteigertes Bewusstsein bezüglich dieser „chamäleonartigen“ Pathologie notwendig, ebenso wie eventuelle Strategien eines Massenscreenings, um den Eisberg der Zöliakie, also die zahlreichen nicht diagnostizierten Fälle, so weit wie möglich an die Oberfläche zu bringen.
Autor
PROFESSOR CARLO CATASSI
  • Professor für Pädiatrie an der Polytechnischen Universität in den Marken (Italien)
  • Gastprofessor für Pädiatrie und Co-Direktor für das Forschungszentrum „Center For Celiac Research“ der University of Maryland, Baltimore, USA
  • Koordinator des wissenschaftlichen Komitees von Dr. Schär
Quellen
  • Catassi C, Gatti S, Fasano A „The New Epidemiology of Celiac Disease“ Journal of Pediatric Gastroenterology & Nutrition, July 2014 Volume 59
www.drschaer-institute.com