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Korrekte Diagnose durch unzusammenhängende gesundheitliche und soziale Faktoren erschwert

Man Social Problems
Marianne Williams, Specialist Allergy & IBS Dietitian, Specialist Gastroenterology Community Dietetic Service, Somerset, UK

Herr X, 45 Jahre, wurde 2016 wegen seiner Symptome - Meteorismus, Blähungen, Bauchschmerzen, plötzliche Durchfälle, Darmgeräusche und extreme Abgeschlagenheit - an die ernährungsmedizinische Abteilung unserer Klinik für Gastroenterologie überwiesen. 
An den Symptomen litt er bereits seit seiner Kindheit. Als Kind war er von seinen Eltern vernachlässigt worden und seine Eltern hatten mit ihm nie einen Arzt aufgesucht, um seine Symptome abklären zu lassen. Auf Weisung des Jugendamts kam er als kleiner Junge in eine Pflegefamilie. In seiner späteren Kindheit entwickelten sich dann Epilepsie-Syndrome, als Erwachsener wurde bei ihm das Asperger Syndrom diagnostiziert. In unsere Klinik kam er zusammen mit seiner Frau, die ihm sehr unterstützend zur Seite stand.
 
Zwei Mal täglich, gewöhnlich innerhalb von 15 Minuten nach Einnahme seines Frühstücks und seiner Hauptmahlzeit, kam es bei Herrn X zu plötzlichem Stuhldrang. Form und Beschaffenheit des Stuhls waren vom Typ 6 – 7 Bristol Stool Chart, die Stuhlabgänge so explosionsartig, dass Herr X häufig anschließend duschen musste. Im Rektalbereich litt er unter starkem Wundsein. Täglich kam es in Verbindung mit Blähungen zu unbemerkten Abgängen kleiner Stuhlmengen (Stuhlschmieren).
 
Unmittelbar nach dem Verzehr von fast allen Lebensmitteln entwickelte Herr X einen Blähbauch und Bauchschmerzen und sah nach nach eigenen Worten „schwanger aus“. Aufgrund seiner starken Refluxbeschwerden versuchte er, abends auf Mahlzeiten zu verzichten; er erzählte, dass er nachts oft mit dem Gefühl aufwachte, „an meiner Magensäure zu ersticken“. Glücklicherweise erhielt er seit Kurzem Medikamente, die seine Refluxbeschwerden linderten, er litt aber weiter mindestens einmal pro Woche unter einer „wunden“ Zunge und Blutblasen am Gaumen. Seit vielen Jahren litt er zudem unter Schmerzen in beiden Knie- und Ellbogengelenken, im Hals und Rücken, ohne dass je eine Diagnose gestellt worden wäre. Morgens fiel es ihm schwer aufzustehen, er fühlte sich extrem abgeschlagen und berichtete, dass seine Augen jeden Tag „vor Müdigkeit brannten“.
 
Nach dem Verzehr von Pasta, Bier und Brot verschlimmerten sich seine Symptome, dennoch verzehrte er diese drei Nahrungsmittel weiter regelmäßig. Ein kürzlich durchgeführter Bluttest zum Nachweis Zöliakie-spezifischer Antikörper war negativ. Nach dem Verzehr von indischem und chinesischem Essen bekam er Durchfall, Blähungen und Bauchschmerzen. Viele Gemüsesorten verursachten bei ihm schnelle und schwere Durchfälle. Unverträglichkeitsreaktionen auf Milchprodukte hatte er nicht beobachtet.
 
Trotz seiner Krankheitsgeschichte mit schweren und chronischen Symptomen hatte Herr X zuvor noch nie eine Ernährungsberatung aufgesucht oder sich weiteren diagnostischen Untersuchungen unterzogen.
 

Therapeutischer Ernährungsplan

Aufgrund seiner gastrointestinalen Symptome, die schon im Kindesalter begonnen hatten, der Gelenkschmerzen, seiner extremen Lethargie und der geschilderten Reaktionen auf glutenhaltige Lebensmittel wurde beschlossen, dass Herr X trotz des kürzlich negativen Zöliakie-Bluttests 8 Wochen lang eine strikt glutenfreie Ernährung ausprobieren sollte. Im Hinblick auf seine Reaktion auf Gemüse und Take-away-Mahlzeiten sollte sein Speiseplan zudem nur FODMAP-armes Obst und Gemüse enthalten, um jede mögliche Fermentation im Dickdarm zu minimieren.

 

Nachuntersuchung nach 8 Wochen

Bei der Nachuntersuchung 2 Monate später erklärte Herr X: „zum ersten Mal in 40 Jahren fühle ich mich gut“. Er hatte nun einen kontrollierbaren Stuhlgang pro Tag und eine Stuhlkonsistenz vom Typ 1 – 3 Bristol Stool Chart. Seit Beginn der glutenfreien Ernährung litt er nicht mehr unter Stuhlschmieren und Wundsein im Rektalbereich. Einen empfindlichen Mund bekam er interessanterweise nur noch dann, wenn er scharfe Speisen oder Speisen mit starkem Aroma zu sich nahm; Blutblasen am Gaumen waren in den letzten 7 Wochen nicht aufgetreten. Seine Gelenkschmerzen persistierten, hatten sich jedoch wesentlich verbessert und er litt nicht mehr unter Augenbrennen. Er berichtete, dass er jetzt „viel mehr Energie“ hatte und seine Frau erzählte, dass es ihm morgens nicht mehr so schwer fiel aufzustehen. Bei der Nachuntersuchung erklärte Herr X: „Ich fühle mich 90 % besser.“
 
Seine Symptomscores hatten sich wie folgt verbessert: (1 = leicht, 10 = schwer)
 
Symptom Vor der Beginn der Diät 8 Wochen nach Beginn der Diät
Blähbauch
10
0
Plötzlicher Stuhldrang
10
0
Diarrhö
10
2
Darmgeräusche/-gurgeln
7
2
Bauchschmerzen
6
0
Blähungen
10
5
Übelkeit
3
0
Gelenkschmerzen
10
5
Wunder Gaumen/wunde Zunge
10
2
Energie
10
5
Gesamt
10
2
 

Verständlicherweise lehnte Herr X es ab, seine Glutenkarenz für 6 Wochen zu unterbrechen, um sich anschließend einer Zöliakie-Biopsie zu unterziehen.
 
Ihm wurde empfohlen, sich weiter strikt glutenfrei zu ernähren, der gemeinnützigen Stiftung Coeliac UK zur Unterstützung von Zöliakiepatienten in Großbritannien beizutreten und fermentierbare Obst- und Gemüsesorten schrittweise wieder einzuführen. Zur Nachuntersuchung wurde ein Termin in 12 Monaten vereinbart.
 

Beobachtungen

Nach meinen klinischen Erfahrungen ist es selten, dass das FODMAP-Konzept allein solch nennenswerte Verbesserungen bei einem derart breiten Symptomspektrum erzielt, insbesondere in Fällen, in denen bereits im Kindesalter schwere Symptome auftraten. Obgleich bei diesem Patienten weizenbasierte Lebensmittel oder Gluten die wahrscheinlichen Symptomauslöser zu sein scheinen, lässt sich eine echte Diagnose zu diesem Zeitpunkt nur schwer bestimmen.
 
Dieser Patientenfall zeigt einmal mehr, dass Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen Gefahr laufen können, durch das Netz der Gesundheitssysteme zu fallen, insbesondere wenn sie zusätzlich unter Krankheiten leiden, die eine Kommunikation erschweren können. Zeit und effektives Zuhören waren im Fall von Herrn X entscheidend.
 
Der Termin zu Nachuntersuchung nach 12 Monaten findet in 2 Monaten statt. Es wird wichtig sein, das glutenfreie Ernährungsregime von Herrn X zu beurteilen und herauszufinden, ob weitere signifikante Verbesserungen seiner Symptome zu beobachten sind. Die Beurteilung von Reaktionen auf eine versehentliche Glutenexposition innerhalb der letzten 12 Monate wird uns wichtige Hinweise auf die langfristige Relevanz der glutenfreien Ernährung liefern. Ebenso wichtig wird es sein, die Gesamtqualität seines Ernährungsregimes zu beurteilen, einschließlich der Wiedereinführung von fermentierbaren Obst- und Gemüsesorten.
 
Dieser Fall wirft die Frage auf, ob es sich bei Herrn X um einen serumnegativen Zöliakie-Patienten handelt. Vielleicht werden wir das nie erfahren.
www.drschaer-institute.com